Das Böhm-Konzept bei Demenz
„Wir betreuen Menschen und nicht ihre Betten“.
Wenn im Mai der Internationale Tag der Pflege gefeiert wird, ist es für uns ein guter Anlass, mal zu erzählen, was heute moderne Pflege in der Altenhilfe zu leisten vermag. An dieser Stelle geben wir einen Einblick in das Pflegekonzept bei Demenz nach Professor Erwin Böhm, nach dem wir im Aachener Franziskuskloster alltäglich arbeiten, und das seit über zehn Jahren, nun wieder erfolgreich rezertifiziert.
Diese Pflege tut den Betroffenen gut, da man die Betroffenen „dort abholt“, wo sie stehen. Keine Über- und keine Unterforderung. Diese Form der Pflege ist aber auch dementsprechend anspruchsvoll und setzt voraus, dass alle Mitarbeitenden im Haus auch entsprechend qualifiziert werden. Haben wir Sie neugierig gemacht? Lesen Sie hier, warum eine an Demenz Erkrankte noch bei uns zuverlässig Blumen gießt oder zum Wochenende einen Kuchen backt.
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Der Schlüssel liegt in der Biographie
Das Böhm-Konzept bei Demenz im Franziskuskloster
Es ist Mittwoch. Frau Krieger gießt wie jede Woche zuverlässig die Blumen im offenen Küchenbereich und in ihrem Zimmer: Wenig Wasser für die Monstera und die Orchidee. Sie dürfen „keine nassen Füße bekommen“, sagt sie. Etwas mehr Wasser gibt es aus der kleinen Gießkanne für den großen Farn. Frau Krieger hat das, was man einen grünen Daumen nennt. Sie liebt die Pflanzen, auch das Gemüse und die Kräuter auf dem Dachgarten. Sie lebt seit zwei Jahren auf der Demenzstation. Als sie ins Franziskuskloster der „Franziska Schervier“ Altenhilfe einzog, stellte sich schnell heraus, was ihre Leidenschaft ist. Viele Jahre pflegte sie ihren heimischen Garten. Erfolgreich erntete sie dort die Früchte ihrer Arbeit. Blumen und Gemüse gab es oft frisch für die Familie und den Küchentisch. Seit ihrer Demenzerkrankung fiel ihr vieles schwer. Das zunehmende Vergessen nahm ihr die Orientierung im Alltag. Sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen, was sie unsicher und traurig machte. Ihre Kinder wohnen nicht am Ort und konnten nicht täglich nach ihr sehen.
So entschieden sie sich zusammen für die Pflegeeinrichtung. Hier wird sie in den Bereichen unterstützt, in denen sie Hilfe benötigt. Das ist die Körperpflege, die Medikamenteneinnahme, die Tagesstruktur. Das, was ihr seit vielen Jahren in Fleisch und Blut übergegangen ist, die Versorgung der Blumen, das hat sie beibehalten. Hier ist sie kompetent und sicher. Das kann sie. Und das gibt ihr auch das Gefühl, eine Aufgabe zu haben, verantwortlich und nützlich zu sein.
Dass Frau Krieger die Pflanzen versorgt, ist kein Zufall. Diese Form des Pflegekonzeptes bei Demenz geht auf Professor Erwin Böhm zurück. Er lenkt mit seinem Ansatz den Blick auf die Biografie der Bewohnerin und des Bewohners. Wie hat sie und er gelebt? Was hat den Menschen in den Jahren geprägt, an die er sich noch erinnert? Der Journalist möchte täglich die aktuelle Zeitung lesen, der Pferdeliebhaber genießt den Besuch beim CHIO, die leidenschaftliche Köchin schält die Kartoffeln, zupft die Johannisbeeren und pinselt die Kuchenform ein.
Es ist ein Irrtum, dass Altenpflege nur darauf aus sein sollte, alte Menschen einfach mit Kaffee, Kuchen und Bingo zu verwöhnen. Es ist wichtig, nur so viel Hilfe anzubieten, wie es notwendig ist. Die Zufriedenheit ist größer, wenn Seniorinnen und Senioren Entscheidungen treffen und Aufgaben übernehmen können, die sie gerne erledigen. Dabei geht es nicht um ein Leistungsprinzip. Es spielt keine Rolle, wie viel Blätter und Stöckchen Herr Lenzen tatsächlich zusammenkehrt und wie lange er dafür braucht. Mit dem Besen in der Hand ist er froh, dass er sich an der Reinigung des Dachgartens beteiligen kann. Er genießt die Tätigkeit an der frischen Luft, kann selbständig einer Aufgabe nachgehen und sich zwischendurch mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern unterhalten.
Die Aachener Pflegeeinrichtung im Franziskuskloster arbeitet umfassend nach dem Böhm-Konzept. Erwin Böhm ist Begründer der psychobiografischen Pflegetheorie. Er gilt als bedeutendster österreichische Pflegeforscher und Dozent für psychobiografische Pflege. Sein Modell ist weit verbreitet, wird vielfach angewandt und weiterentwickelt. Mit dem Blick auf individuelle Voraussetzungen wird den betroffenen Menschen häufig ein Stück ihrer Würde gesichert. Sie erleben sich als aktiv handelnd und werden nicht nur passiv versorgt. „Satt und sauber“ ist nicht das alleinige Ziel. Die Demenzerkrankten erkennen in ihrem Alltag liebgewordene Gewohnheiten aus ihrer Vergangenheit. Dinge, die sie tun, erleben sie als bekannt und sinnvoll. Die Menschen sind in der Regel ausgeglichen und zufrieden. So stellen Besucherinnen und Besucher häufig fest, dass es auf den Demenzstationen ruhig und friedlich zugeht. Dabei sind viele Alltagstätigkeiten zu sehen, nicht nur Bingo-Spiele oder Freizeitbeschäftigungen, die wenig Sinnhaftes vermitteln. Die Pflegepraxis zeigt, dass nahezu komplett auf die Gabe von Psychopharmaka verzichtet werden kann.
Das Pflegeteam und auch der Sozialkulturelle Dienst absolvieren eine umfangreiche Qualifizierung an 12 Tagen während eines halben Jahres. Zum Abschluss steht eine Prüfung an und ein eigenes Projekt, das man nach biografischen Vorgaben erstellt. Da wird ein „Herrenstammtisch“ nach altem Muster organisiert, eine „Milchbar“ wie aus den 50er Jahren eingerichtet, ein Erinnerungskoffer gepackt, der eine Reihe Gegenstände der jeweiligen Vergangenheit beherbergt und wieder entdecken lässt. Immer wieder testet man, was motiviert, was regt zum Handeln an, was schafft Lebensfreude? Das kann ein Strickzeug ebenso sein wie eine Rosenschere, eine Kaffeemühle oder ein Taschenrechner.
Es geht immer um das, was man gerne tut und kann. Böhm fasst das kurz zusammen, wenn er sagt, „wir betreuen Menschen und nicht ihre Betten“.
Auch die Mitarbeitenden aus den anderen Bereichen wie Hauswirtschaft, Empfang oder Reinigung machen einen kleinen „Grundkurs Böhm“. So werden alle sensibilisiert für die Verhaltensweisen der Demenzerkrankten. Vorwissen fördert das Verständnis für Eigenarten. Auf diese Weise können stressige Situationen häufig schon im Vorfeld vermieden werden. Möchte jemand unbegleitet aus dem Haus gehen, kann ein freundliches Gespräch die Bewohnerin oder den Bewohner etwas ablenken und wieder zum Wohnbereich zurückführen.
Für jede Bewohnerin und jeden Bewohner werden der jeweilige Entwicklungsverlauf dokumentiert und evaluiert. Das Pflegekonzept muss immer wieder auf die Person und ihre Entwicklung angepasst werden. Das erfordert große Aufmerksamkeit. Ein enger Austausch im Pflegeteam hilft dabei. Supervision, Fort- und Weiterbildung begleiten das Team in dieser anspruchsvollen Aufgabe.
Die Kunst besteht darin, das außerordentliche Niveau der Einrichtung zu halten. So freuen sich das Team und die Geschäftsführung der „Franziska Schervier“ Altenhilfe darüber, dass das Franziskuskloster mit seinem Wohnbereich Hedwig nun schon zum sechsten Mal mit seinem Böhm-Konzept vom Europäischen Netzwerk für Psychobiografische Pflegeforschung (ENPP) rezertifiziert wurde. Geprüft wurden vier Kategorien wie Psychobiografische Milieugestaltung, Psychobiografisches Normalitätsprinzip, Rehabilitative Hausideologie und die Psychobiografische Pflegeplanung. Für alle Bereiche gelten strenge Richtlinien, die allesamt in besonderem Maße erfüllt wurden. Das ist in der Regel weder für Besucherinnen und Besucher oder Bewohnerinnen und Bewohner direkt sichtbar, wenn man mal von der Urkunde an der Wand absieht. Aber man erkennt das Pflegekonzept eben daran, dass Frau Krieger fröhlich die Blumen gießt und Herr Lenzen zufrieden die Blätter auf der Dachterrasse kehrt.